Joseph Marie Degérando

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Joseph Marie Degérando

Joseph Marie Degérando, ab 1811 Joseph Marie, baron de Gérando (* 29. Februar 1772 in Lyon; † 10. November 1842 in Paris[1]) war ein französischer hoher Verwaltungsbeamter und philosophischer Schriftsteller.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Joseph Marie Degérando war der Sohn des italienischstämmigen Antoine de Gérando (1739–1785), ein Landbesitzer und berühmter Architekt in Lyon. Seine Mutter war Marie Biclet. Sein Bruder, Antoine de Gérando war Beamter in der Cour des monnaies in Lyon. Die Eltern waren gesellschaftlich geachtet, die Mutter wurde 1778 von der Malerin Élisabeth Vigée-Lebrun porträtiert („Mme Dégeraudot“).

Joseph Marie wuchs in Lyon auf und studierte auch dort. 1793 wirkte er bei der Verteidigung der durch ihre monarchistische Einstellung verfemten Stadt gegen die Armee des Nationalkonvents mit, wurde dabei gefangen genommen und zum Tode verurteilt. Er konnte jedoch über die Schweiz nach Neapel fliehen. 1796 kehrte Degérando nach Lyon zurück und ging mit seinem Freund Camille Jordan nach Paris. Nach dem Staatsstreich des 18. Fructidor V verhalf er Jordan zur Flucht nach Deutschland und trat Ende 1797 als Soldat in André Massénas Armee ein. In dieser Zeit reichte er seine erste philosophische Abhandlung bei der Académie française ein. Durch ihren Erfolg wurde er einer größeren Öffentlichkeit bekannt und unter Lucien Bonaparte Berater des Innenministeriums. Zu Napoléon Bonapartes Krönung in Mailand reiste er 1805 als maître des requêtes des französischen Conseil d’État (Staatsrat). 1808 wurde er Mitglied der Verwaltungskommission der Toskana, danach 1810 Mitglied der Verwaltungskommission für den säkularisierten Kirchenstaat (die États romains).

1811 wurde er zum Conseiller d’État, am 17. März 1811 zum baron de l’Empire in der Noblesse impériale erhoben. 1812 wurde er Intendant der Region Oberkatalonien und zum Offizier der Ehrenlegion ernannt.

In der ersten Restauration verblieb er im Staatsrat, während der Herrschaft der Hundert Tage wurde er jedoch von Napoléon aus diesem Gremium ausgeschlossen, da er sich im März 1815 geweigert hatte, eine Ergebenheitsadresse des Staatsrats an Napoléon zu unterzeichnen. Durch die zweite Restauration wurde er wieder in sein Amt als Staatsrat eingesetzt und übernahm in der Folge verschiedene sozial- und wirtschaftspolitisch ausgerichtete Verwaltungsfunktionen.

Weitere Ehrungen folgten: 1820 wurde er zum Kommandeur der Ehrenlegion ernannt, 1832 in zwei Akademien des Institut de France aufgenommen (die Académie des sciences morales et politiques und die Académie des inscriptions et belles-lettres) und am 3. Oktober 1837 zum Pair von Frankreich erhoben.

1807 wurde er zum auswärtigen Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften gewählt.[2] Seit 1808 war er auswärtiges Mitglied der Bayerischen und seit 1812 korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften.[3]

Werk[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Degérandos erste philosophische Abhandlung Quelle a été l'influence des signes sur la formation de la pensée wurde von der Académie française 1799 preisgekrönt. Er erweiterte sie in mehreren Schritten zu seiner Histoire comparée des systèmes de philosophie relativement aux principes des connaissances humaines, die im 19. Jahrhundert als bestes französisches Werk zur Philosophiegeschichte galt. Er beeinflusste mit seinem philosophischen Ansatz Henry David Thoreau, Margaret Fuller und besonders Ralph Waldo Emerson, der Degérandos Gedankengebäude ausführlich zur Unterstützung der Thesen in seinem ersten Buch „Nature“ (1836) benutzte.

Neben der Philosophie befasste sich Degérando in mehreren Schriften mit der Armenfürsorge, der öffentlichen Wohlfahrtspflege und dem Bildungswesen. Seine De la bienfaisance publique ist eine umfassende Darstellung des Armenwesens seiner Zeit.

Seine Considérations sur les diverses méthodes à suivre dans l'observation des peuples sauvages von 1800 sind ein frühes Werk über Methoden der Ethnologie.

Werke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Philosophie / Philosophiegeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Armenfürsorge / Bildung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Le Visiteur du pauvre, mémoire qui a remporté le prix proposé par l'Académie de Lyon sur la question suivante: „Indiquer le moyen de reconnaître la véritable indigence, et de rendre l'aumône utile à ceux qui la donnent comme à ceux qui la reçoivent“, Paris 1820, 3. Aufl. 1826, Neuausgabe : Jean-Michel Place, Paris, 1989. ISBN 978-2-85893-136-1 ; deutsch von Schelle, Quedlinburg 1831
  • Education des sourds-muets de naissance, Pairs 1827, 2 Bde. (@1@2Vorlage:Toter Link/gallica.bnf.frDigitalisat (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im August 2018. Suche in Webarchiven))
  • Du perfectionnement moral, ou de l'éducation de soi-même, Paris 1825, 2 Bde.; deutsch von Schelle, Halle 1829, 2 Bde.
  • Cours normal des instituteurs primaires, ou Directions relatives à l'éducation physique, morale et intellectuelle dans les écoles primaires, Paris 1832
  • De la bienfaisance publique, Paris 1839, 4 Bde.

Sonstige[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Considérations sur les diverses méthodes à suivre dans l'observation des peuples sauvages [28 fructidor an VIII.], 1800 (Auszug in englischer Übersetzung (Memento vom 6. Juli 2007 im Internet Archive)), dt. "Erwägungen über die verschiedenen Methoden der Beobachtung der wilden Völker" in: Moravia 1989: 219–252
  • Institutions du droit administratif, Paris 1829, 2 Bde.; 2. Auflage Paris (vollendet von Joseph Boulatignier und Charles Blanche), 1842–45, 5 Bde.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • A. Robert, G. Cougny: Dictionnaire des parlementaires français. Paris 1889–1891.
  • Wilhelm Köster: Joseph Marie Degérando als Philosoph. Dissertation. Universität Freiburg 1931. Schöningh, Paderborn 1933 (Geschichtliche Forschungen zur Philosophie der Neuzeit. Band 2).
  • Georges Berlia: Gérando, sa vie, son œuvre. Paris 1942.
  • Winfried Busse, Jürgen Trabant (Hrsg.): Les Idéologues. Sémiotique, théories et politiques linguistiques pendant la Révolution française : proceedings of the Conference held at Berlin, October 1983. Benjamins, Amsterdam, Philadelphia 1986.
  • Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie der Aufklärung. Fischer, Frankfurt am Main 1989.
  • Jean Copans, Jean Jamin: Aux origines de l’anthropologie française. Le Sycomore, Paris 1978. Neuauflage: Place, Paris 1994.
  • Jean-Luc Chappey, La Société des observateurs de l'homme, 1799–1804. Des anthropologues au temps de Bonaparte. Société des études robespierristes, Paris 2002, ISBN 2-908327-45-7.
  • Martin H. Herrnstadt: Menschenbeobachtung und Selbstverwaltung. Joseph-Marie de Gérando und das nachrevolutionäre Selbst 1797–1813. Wallstein-Verlag, Göttingen 2023 (Historische Wissensforschung; 23), ISBN 978-3-8353-5424-1.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Die kleine Enzyklopädie, Encyclios-Verlag, Zürich, 1950, Band 1, Seite 342
  2. Holger Krahnke: Die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 1751–2001 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse. Folge 3, Bd. 246 = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Folge 3, Bd. 50). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-525-82516-1, S. 66.
  3. Mitglieder der Vorgängerakademien. Joseph Marie Baron de Gérando. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, abgerufen am 28. März 2015.