ADB:Hölderlin, Friedrich

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Artikel „Hölderlin, Johann Christian Friedrich“ von Adolf Wohlwill in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 12 (1880), S. 728–734, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:H%C3%B6lderlin,_Friedrich&oldid=- (Version vom 25. April 2024, 21:17 Uhr UTC)
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Hölderlin: Johann Christian Friedrich H.[1] wurde am 20. März 1770 in dem württembergischen Städtchen Lauffen am Neckar geboren. Bereits im J. 1773[2] verlor er seinen Vater, den Klosterhofmeister Heinrich Friedrich H., und die Erziehung des Knaben war zunächst dem Einfluß der Mutter und Großmutter überlassen. Nachdem er die Lateinschule zu Nürtingen absolvirt und das Landexamen bestanden hatte, besuchte er von 1784–88 die Klosterschulen von Denkendorf und Maulbronn, um für das theologische Studium vorgebildet zu werden. Schon in dieser Periode äußerte sich seine poetische Befähigung, welche durch die Dichter des Alterthums, sowie andererseits durch Klopstock und den Macpherson’schen Ossian angeregt wurde.

Im Herbst 1788 bezog H. das theologische Stift zu Tübingen. Obwol bereits in frühen Jahren der Einsamkeit nachhängend und zu grübelnder Melancholie geneigt, gewann der durch Schönheit, Bildung und edle Sinnesart ausgezeichnete Jüngling hier bald einen Kreis von vortrefflichen Freunden, unter denen Neuffer und Magenau seine Liebe zur Dichtung theilten, Hegel und später der 1790 ins Stift gekommene Schelling mit ihm durch gleiche philosophische Bestrebungen verbunden waren. Schon damals wurde H. durch die harmonievollen Schöpfungen des griechischen Geistes mächtig ergriffen; und doch erscheint er in mancher Hinsicht wie ein Nachzügler der Sturm- und Drangperiode, deren Losungsworte „Natur“ und „Freiheit“ nicht nur seine Jugendpoesien, sondern in gewissem Sinne die Zielpunkte aller seiner Dichtungen bezeichnen.

Die schwärmerische Liebe zur Natur, welche H. seit den träumerischen Tagen seiner Kindheit eigenthümlich gewesen, war durch die Entbehrungen, welche ihm die Disciplin jener klösterlichen Bildungsanstalten auferlegte, sowie durch den verwandten Zug der unter Rousseau’s Einfluß stehenden zeitgenössischen Litteratur verstärkt worden. Die poetische Neigung, in der Natur nicht nur den Widerhall des eigenen Gemüthslebens zu vernehmen, sondern mit Berg und Wald, mit Wolken und Gestirnen, wie mit beseelten Wesen zu verkehren, verband sich mit dem Studium antiker Philosophen, Spinoza’s und wahrscheinlich auch der philosophischen Briefe Schiller’s, um jenen Pantheismus zu erzeugen, welchen Rosenkranz treffend als die dichterische Bevorwortung Schelling’s und Hegel’s bezeichnet hat.

Auch an Hölderlin’s Freiheitsbegeisterung hat die Beschäftigung mit dem classischen Alterthum erheblichen Antheil; doch vermögen wir daneben den Einfluß von Klopstock’s Teutonismus und Schubart’s Tyrannenhaß, von Rousseau’s Contrat social und Schillers Don Carlos zu verfolgen. Solchen Anregungen entsprechend ist Hölderlin’s politischer Enthusiasmus bald mehr patriotisch, bald kosmopolitisch gefärbt, bald auf die Vergangenheit, bald auf die Gegenwart und Zukunft gerichtet. Noch ehe H. seine schönsten Weisen zum Ruhme der Heroen von Marathon anstimmte, besang er die „Heldenschatten“ der Burg Tübingen und die „heiligen Kämpfer“ der Eidgenossenschaft, und mächtiger noch als solche der Vorzeit gewidmete Klänge ertönen die Jubellieder, welche der Beginn der französischen Revolution in ihm hervorrief. Auch H. huldigte, wie Hegel und Schelling, den politischen Tendenzen, welche im Anfang der neunziger Jahre unter den Tübinger Studenten zur Geltung gelangt waren; und wenn gleich die Erzählung, daß er mit jenen Genossen einen auf dem Marktplatz oder an den Ufern des Neckars aufgerichteten Freiheitsbaum umtanzt habe, in den Bereich des Mythus gehört, so ist doch unzweifelhaft, daß er für die politische Wandlung in Frankreich die lebhafteste Sympathie bekundete und in begeisterten Hymnen die Wiederkehr der langentbehrten Freiheit und die beginnende Vollendung der Menschheit feierte.

[729] Die Harmonie des Universums und die harmonische Entwicklung des Menschengeschlechts bilden überhaupt das Grundthema seiner Jugendgedichte, gleichviel ob sie an „die Stille“ oder an „die Schönheit“, an „die Freiheit“ oder an „den Genius der Tugend“ gerichtet sind. Wenn der Gedankengehalt dieser Poesie vorzugsweise durch Schiller, hier und da auch durch Heinse bestimmt worden ist, und wenn dieselbe an das Vorbild des ersteren in formeller Hinsicht fast ausnahmslos erinnert, so fesselt sie uns trotz dieses Mangels an Originalität als Ausdruck einer idealistischen Jünglingsnatur, welche gleichmäßig durch dichterischen und philosophischen Schwung emporgetragen, beseligt durch Liebe und Freundschaft, wie durch enthusiastische Zukunftshoffnungen den Jubel des reichbeglückten Herzens in melodischen Rhythmen erklingen läßt.

Freilich gesellten sich diesem Frohlocken der Jugend frühzeitig genug Klagen der Wehmuth hinzu, um dasselbe schließlich völlig zu übertönen. Indem H. in der Poesie sich namentlich der Lyrik widmete, unter den Künsten die Musik bevorzugte (wie er denn als ein besonders begabter Schüler des Flötenspielers Dulon bezeichnet wird), und indem er andererseits in wissenschaftlicher Hinsicht sich hauptsächlich dem Gebiet abstracter Speculation zuwandte, so trugen alle seine Lieblingsbeschäftigungen dazu bei, sein inneres Leben zu vertiefen, seinen Idealismus zu steigern und ihn von den realen Verhältnissen längere Zeit fern zu halten. Da die Berührung mit den letzteren indessen nicht völlig ausbleiben konnte, ergaben sich naturgemäß eine Reihe bitterer Enttäuschungen. „Dies ist das heilige Ziel meiner Wünsche und meiner Thätigkeit – dies, daß ich in unserm Zeitalter die Keime wecke, die in einem künftigen reifen werden“ – so schrieb er in der letzten Zeit seines Universitätsaufenthalts an den ihm innig verbundenen Halbbruder. Zur Hebung und Besserung des Menschengeschlechts hoffte er beitragen zu können, und doch war – da er zum Eintritt in die theologische Carriere sich nicht zu entschließen vermochte – das Hofmeisterthum die einzige Berufsthätigkeit, die ihm Zeit seines Lebens zu Theil geworden.

Die erste Einführung Hölderlin’s in diese Art der Wirksamkeit ist wegen der begleitenden Umstände von Interesse. Schiller, im J. 1793 von Charlotte v. Kalb beauftragt, ihr einen Erzieher für ihren Sohn zu empfehlen, hatte, nachdem ein früherer Vorschlag keinen Anklang gefunden, während seines Aufenthalts in Schwaben sein Augenmerk auf Hegel gerichtet. Da dieser indessen um dieselbe Zeit eine ähnliche Aufforderung aus Bern erhalten, so verwandte sich der württembergische Rechtsgelehrte und Dichter G. Stäudlin in einem an Schiller gerichteten Schreiben (vom 20. September 1793) für H., den „gewiß nicht wenig versprechenden Hymnendichter“, aufs angelegentlichste, indem er sich zugleich für die Reinheit seines Herzens und seiner Sitten und für die Gründlichkeit seiner Kenntnisse verbürgte. Nachdem Schiller hierauf die – freilich zunächst nur flüchtige – persönliche Bekanntschaft Hölderlin’s gemacht und über ihn in wohlwollenden, der Hauptsache nach günstigen Ausdrücken berichtet hatte, erfolgte das Engagement. Einige Zeit darauf verließ H. das württembergische Heimathland, aus dessen beengender Sphäre er nach Schwabenart hinausstrebte, und für welches er doch Zeitlebens die rührendste Liebe und Anhänglichkeit bewahrt hat.

Der Aufenthalt Hölderlin’s bei Frau v. Kalb zu Waltershausen im Grabfeld unweit Meiningens gestaltete sich zunächst völlig nach seinem Wunsch. Die mit Einsicht und Eifer begonnene pädagogische Thätigkeit hatte wenigstens anfänglich großen Reiz für ihn. Dazu kam, daß Frau v. Kalb nicht nur durch die mütterliche Freundschaft, die sie ihm zu Theil werden ließ, seine Dankbarkeit erweckte, sondern ihn auch durch die Tiefe und Klarheit ihres ungewöhnlichen Geistes zur Bewunderung fortriß. Beide waren überhaupt verwandte Naturen, und es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß sich in den hinterlassenen [730] Aufzeichnungen der Charlotte v. Kalb „der schwärmerisch inbrünstige Stil Hölderlins“ wiederfindet. Solcher inneren Gemeinschaft ungeachtet vermochte jene Stellung dem jugendlichen Dichter keine dauernde Befriedigung zu gewähren. Bereits gegen Ende des J. 1794, da er mit seinem Zögling nach Jena geschickt worden, war er Schiller sowol wie Fichte näher getreten und hatte reiche Anregung von ihnen empfangen. So entstand der Beschluß, im Anfang des J. 1795 seine bisherigen Beziehungen zu lösen und im Verkehr mit jenen Männern eine Zeitlang ausschließlich seiner Selbstbildung zu leben. Schiller bekundete für seinen talentvollen Landsmann das wärmste Interesse, und sein „kolossalischer Geist“ übte auf den begeisterten Jünger einen mächtigen, diesem fast erdrückend erscheinenden Einfluß aus. Gleichzeitig ward H. durch die gewaltige Persönlichkeit Fichte’s gefesselt, in dessen Lehre er sich, durch das gründliche Studium der Kant’schen Philosophie vorbereitet, mit Eifer vertiefte, und dessen feuriger Vortrag seine Begeisterung entzündete. Der Wunsch, längere Zeit in der Umgebung der von ihm verehrten Männer zu leben und später vielleicht selbst in Jena Vorlesungen zu halten, wurde durch die äußeren Verhältnisse vereitelt.

Im Frühjahr[3] 1795 kehrte H. in das Mutterhaus nach Nürtingen zurück. So oft auch in der Fremde ihn Sehnsucht nach den Seinigen ergriffen, so vermochte doch auch daheim die zunehmende Niedergeschlagenheit seines Gemüths keine Heilung zu finden. Es fehlte ihm hier sowol an einem befriedigenden Beruf wie an Nahrung für das eigene Geistesleben; und immer schwerer ward es ihm, den Gegensatz zwischen Ideal und Wirklichkeit in allen kleinen und großen Verhältnissen des Lebens zu überwinden, immer mehr wurde er Fremdling in der ihn umgebenden Welt. Bezeichnend ist die Klage in einem Brief an seinen Freund Neuffer, daß er die Menschen nie verstehen lerne, ohne einige goldene kindische Ahnungen aufzuopfern; und nicht minder trifft auf ihn zu, was er zur Charakteristik seines Romanhelden Hyperion sagen läßt, daß er nämlich an einem Tage siebzigmal vom Himmel auf die Erde geworfen werde. Wie in seinen Briefen, so ist in seinen Gedichten Schwermuth die Grundstimmung, aus welcher nur ein rasch vorübergehender Traum ihn zeitweilig zu erlösen schien.

Im Anfang des J. 1796 erhielt H. durch Vermittelung seines Freundes Sinclair eine Hofmeisterstelle bei dem Kaufmann J. F. Gontard in Frankfurt a. M. Die Gemahlin desselben, Susette geb. Borkenstein aus Hamburg, war durch Schönheit, Charakter und harmonische Geistesbildung ausgezeichnet. Da ihr vorzugsweise die Sorge für die Erziehung der Kinder oblag, so geschah es, daß H. ihr näher trat und sich dem Zauber ihres Wesens nicht zu entziehen vermochte. Sie erschien ihm als das Ideal einer weiblichen Natur. Begeistert nannte er sie eine Griechin, was für ihn den Inbegriff des Hohen und Edlen bedeutete. Sein Leben, das ihm nichts mehr werth gewesen, ward verjüngt, gestärkt und erheitert, und auch seine Poesie floß reicher und freudiger. Doch das in den Liedern „an Diotima“ mit so hellem Jubelton besungene Glück konnte seiner Natur nach nicht von Dauer sein. Obwol H. – wie es scheint – in der Aeußerung seiner Leidenschaft nie die Grenze des Erlaubten überschritten, so trug doch das Verhältniß den Keim des tragischen Ausganges in sich. Unter den inneren Kämpfen, welche H. zu bestehen hatte, kehrte der frühere Trübsinn zurück. Schließlich war es ein herber Zusammenstoß mit dem Herrn des Hauses[4], welcher ihn zum schleunigen Verlassen jener Stellung bestimmte (September 1798)[5].

H. begab sich jetzt zu Sinclair nach Homburg, wo ihm der theilnehmende Zuspruch des letzteren und der Verkehr mit trefflichen Menschen wol einige Beruhigung gewährte, aber die unheilvolle Wunde nicht zu lindern vermochte. Als im November 1798 Sinclair von dem Landgrafen Friedrich V. von Hessen-Homburg zum Congreß nach Rastadt abgesandt wurde, entschloß sich H., der Einladung [731] des Freundes Folge leistend, ihn dahin zu begleiten. Indessen war der Eindruck, welchen er dort von der politischen Erniedrigung Deutschlands empfangen mochte, wol dazu angethan, seine melancholische Gemüthsstimmung noch mehr zu verdüstern. Gegen Ende des Jahres kehrte er nach Homburg zurück, um in unablässiger Beschäftigung mit der Poesie und Philosophie Trost zu suchen.

Bot der Hymnus den entsprechenden dichterischen Ausdruck für die frohe Begeisterung der akademischen Jugendtage Hölderlin’s, wie nicht minder für die weihevolle Stimmung seiner Liebe zu Diotima dar, so ist doch der Grundton in der Mehrheit seiner Dichtungen, namentlich aus späterer Zeit, durchaus elegisch. Mit Wehmuth blickte er nicht nur auf das eigene Jugendglück zurück, sondern auch auf das dahingeschwundene Jugendalter der Menschheit. Je mehr die damaligen Zustände Deutschlands mit seinem Humanitätsideal in Widerspruch standen, um so tiefer versenkte er sich in die Welt des Hellenenthums, welche seine Phantasie zu einem verlorenen Paradies der Menschheit umgestaltete. In diesem Sinne, wie in manchen anderen Beziehungen, ist keine andere Dichtung so charakteristisch für H. wie sein Roman Hyperion. Der erste Entwurf desselben stammt aus der Tübinger Zeit. Um die Veröffentlichung des Werks machte sich namentlich Schiller verdient, der ein Fragment im vierten Bande seiner Thalia mittheilte und alsdann Cotta zur Herausgabe des Ganzen veranlaßte. Nach mannichfachen Umarbeitungen, welche nicht zum mindesten durch die eigenen Lebenserfahrungen Hölderlin’s hervorgerufen waren, erschien der erste Band des Romans 1797, der zweite 1799. Die Behandlung des Gegenstandes in Briefen erinnert an das Vorbild der neuen Heloïse und des Goethe’schen Werther’s, doch sind die Briefe im Hyperion meist nicht der unmittelbare Ausdruck des jüngst Erlebten, sondern sie berichten der Mehrheit nach über Dinge, die sich vor geraumer Zeit zugetragen. Es bewirkt daher die angedeutete Einkleidung, daß, ähnlich wie bei Macpherson’s Ossian, die dargestellten Ereignisse – auch Glück und Lust – als längst entschwundene, in melancholische Beleuchtung gerückt werden, und daß um so leichter die Erzählung des Thatsächlichen sich in den lyrischen Ausdruck der Empfindung verflüchtigt. Ergibt sich hieraus schon, daß H. den Erfordernissen eines Romans und speciell eines historischen Romans, der im J. 1770 zur Zeit des von Katharina II. geschürten Griechenaufstandes spielen sollte, nur wenig zu genügen im Stande war; so erscheint seine Dichtung andererseits im höchsten Grade beachtenswerth, wenn wir sie ausschließlich als eine Aneinanderreihung poetischer Selbstbekenntnisse betrachten. Um die Hingebung des Helden an einen verehrten Lehrer, seine ideale Freundschaft und Liebe, sein zartes, erregbares, alles Große mit glühendem Enthusiasmus ergreifendes Gemüth zu schildern, durfte der Dichter nur sein eigenes Seelenleben in Worte fassen. Der Gram des Helden über die Versunkenheit des modernen Griechenlands verkündet Hölderlin’s Empfindungen über die Erniedrigung Deutschlands. Ist die Schilderung von Hyperion’s thatkräftigem Eingreifen, um die Befreiung seines Vaterlandes und die Wiedergeburt des alten Hellas zu bewirken, ein verklärtes Spiegelbild dessen, was H. ersehnte, so klingt uns andererseits in den wehmüthigen Berichten von des Helden Mißerfolg der Nachhall so mancher schmerzlicher Enttäuschungen des Dichters entgegen. Zum Schluß findet Hyperion Trost und Frieden durch völlige Hingebung an die Natur, in deren Schooße auch H. stets von neuem Genesung suchte. Und nicht nur sein Gefühlsleben, sondern seine gesammte religiös-philosophische Weltanschauung hat H. in seinem Roman niedergelegt, seinen Pantheismus, seine Ideen über Schönheit und Kunst, seine Ansichten über den Entwicklungsgang der Menschheit, welche er hier in den Worten zusammenfaßt: „Von Kinderharmonie sind einst die Völker ausgegangen, die Harmonie der Geister wird der Anfang einer neuen Weltgeschichte sein.“

[732] Wol noch weniger als zum Romandichter im gewöhnlichen Sinne des Worts mochte H. zum Dramatiker geschaffen sein. Dennoch hatte ihn insbesondere das Studium der griechischen Vorbilder zu Versuchen auch auf dem Gebiete der Tragödie begeistert. Wie er bereits in Waltershausen den Plan zu einem Drama „Der Tod des Sokrates“ gehegt, so hatte er später den spartanischen König Agis zum tragischen Helden erwählt und sich mit diesem Thema sowol in Rastatt, wie in Homburg beschäftigt.[6] Die damals vollendeten Bruchtheile der Dichtung scheinen indessen verloren zu sein. Dagegen besitzen wir sehr ansehnliche Fragmente von dem Drama „Der Tod des Empedokles“, zu dessen Ausführung H. in Homburg seine Kräfte vorzugsweise concentrirte. Ist Hyperion nur der auf neuhellenischen Boden verpflanzte H., so sollte im Empedokles gleichsam sein erhöhtes und idealisirtes Selbst zum Ausdruck gelangen. Der Held dieser Dichtung erscheint als Berather und Wohlthäter seines Volks, als Vertrauter der Natur und Kündiger tiefsinniger Weisheit. Aehnlich, wie es H. früher bei der beabsichtigten Behandlung von Sokrates’ Tod vorgeschwebt haben mochte, galt es hier, das Leid des hoch über seinem Volke stehenden und schmählich von ihm verkannten Philosophen zur Darstellung zu bringen. Andererseits scheint es, daß der durchaus im Pantheismus lebende Dichter in diesem seinem großartigst angelegten Werke den geheimen Widerspruch, der in der pantheistischen Weltauffassung begründet ist und die aus demselben hervorgehende Tragik veranschaulichen wollte. Tritt uns diese Absicht Hölderlin’s vor Allem in den Monologen des Empedokles und in dessen Unterredungen mit seinem Jünger Pausanias entgegen, so bekunden die männlichen und weiblichen Nebenfiguren, daß es dem Dichter an Talent zur Charakterzeichnung keineswegs völlig gebrach. Auch sind unter den ausgeführten Scenen einige, welche sich durch vollendete Anmuth und Durchsichtigkeit der Diction auszeichnen; daneben freilich finden sich solche, in welcher[7] die Rede den zum Licht strebenden Gedankenreichthum nur unvollkommen durchschimmern läßt.

H. hatte den Wunsch gehegt, wenigstens solange in Homburg unabhängig zu leben, bis er den „Empedokles“ zu einiger Reife gebracht; doch Kränklichkeit durchkreuzte seinen Vorsatz. Auch der Plan, durch die Begründung eines Journals „Iduna“ auf die ästhetische Bildung der Nation einzuwirken und zugleich die eigene Existenz zu sichern, scheiterte vollständig, da es ihm an der ausreichenden Unterstützung geeigneter Mitarbeiter fehlte. Der unter Anderen zur Betheiligung aufgeforderte Schiller versagte nicht nur diese, sondern bemühte sich zugleich, auf Grund seiner 16jährigen Erfahrungen, das an sich ziemlich Undankbare und in Hölderlin’s Lage geradezu Aussichtslose eines solchen Unternehmens unumwunden darzuthun.

Unter solchen Umständen lenkte H. seine Blicke wieder auf das württembergische Heimathland, und der Gedanke tauchte wol einmal in ihm auf, nunmehr daselbst als Pfarrvicar in die geistliche Carriere einzutreten. War doch durch den poetischen und philosophischen Pantheismus der fromme Glaube seiner Kindheit im Herzen Hölderlin’s nimmer ausgelöscht worden, vielmehr in dem Gedichte zum 72. Geburtstag der Großmutter (1799) zu rührendem Ausdruck gelangt. Dennoch vermochte H. auch jetzt keinen entscheidenden Entschluß in der angedeuteten Richtung zu fassen. Es wirkte dabei mit, daß er befürchtete, beim Antritt eines Amts die freie Muße zu schriftstellerischer Thätigkeit einzubüßen. Trotzdem kehrte er, dem Wunsche der Seinigen folgend, im Sommer 1800 nach Schwaben zurück, schon damals körperlich herabgekommen und von reizbarster Gemüthsstimmung. Doch schien es, als ob er auf heimathlichem Boden noch einmal von frischem Lebensmuth angeweht werden sollte. Zeitweilig wenigstens erfreute er sich der langentbehrten inneren Ruhe, und die Aussicht auf einen nahen [733] Friedensabschluß erweckte in ihm die freilich allzu optimistische Hoffnung, daß nun auch eine bessere Periode für Deutschland bevorstehe, in welcher Liebe und Gemeingeist über den Egoismus herrschen und „das deutsche Herz seine geheimen, weitreichenden Kräfte entfalten werde.“

Ende des J. 1800[8] übernahm H. eine Hauslehrerstelle zu Hauptwil unweit Constanz, kehrte indeß bereits nach einigen Monaten zurück. Der Hofmeisterthätigkeit endlich überdrüssig geworden, hoffte er eine befriedigendere Wirksamkeit zu erlangen, wenn er Gelegenheit fand, einer akademischen Jugend die Früchte seiner Studien auf dem Gebiet der griechischen Litteratur und Philosophie mitzutheilen. Er beabsichtigte sich in Jena als Docent niederzulassen und rechnete dabei – wie es scheint – vor Allem auf die Unterstützung Schiller’s. Aber auch dieses Vorhaben scheiterte. Der Subsistenzmittel entbehrend mußte H. aufs neue der Heimath den Rücken wenden, um wiederum eine Hauslehrerstelle anzutreten – dieses Mal in dem fernen Bordeaux bei dem Hamburgischen Generalcommissär (Consul) D. Ch. Meyer. Ende Januar 1802 traf er daselbst ein. Ueber die Aufnahme, welche er gefunden, äußerte er sich überaus befriedigt. Auch fehlte es nicht an mannichfachen Anregungen. Durch den Anblick von Ueberresten der antiken Cultur und den Verkehr mit den südlicheren Menschen ward ihm das Wesen der Griechen verständlicher als zuvor. Andererseits haben vielleicht gerade der Reichthum der neuen Eindrücke und die Gluth des südlichen Himmels nicht wenig dazu beigetragen, das mehr als einmal in seinen Tiefen betroffene Gemüthsleben des allzu zart organisirten Dichters vollends zu erschüttern. Mehrere Monate war seine Familie ohne Kunde von ihm geblieben, als er im Anfang Juli[9] 1802 in Bettlertracht, leichenblaß, mit hohlem und wildem Auge als ein Irrsinniger wieder in seinem Heimathlande erschien. Wir wissen nicht, wodurch in letzter Veranlassung dies grausame Verhängniß auf ihn herabbeschworen ward. Im Juni[10] hatte er plötzlich seine Stelle in Bordeaux verlassen, in den heißesten Sommertagen ganz Frankreich von Westen nach Osten zu Fuß durchstreift und vermuthlich unterwegs die schmerzliche Kunde von dem Tode Diotima’s erhalten.[11]

Die sorgsame Pflege, welche H. zu Nürtingen im mütterlichen Hause zu Theil ward, vermochte zeitweilig seine Genesung zu fördern, sodaß er sich aufs neue in eigenen Gedichten versuchen und andererseits in das Studium der griechischen Dichter versenken konnte. Er beschäftigte sich insbesondere eifrig mit Pindar, und unzweifelhaft durch dieses Vorbild verleitet, erhob er sich in seinen Hymnen „Patmos“, „Die Wanderung“, „Der Rhein“ zu fast noch freierem und gewagterem Flug als zuvor. Aber so eigenartig ergreifend und tiefsinnig einzelne Stellen dieser Dichtungen erscheinen, so gemahnt doch das Unvermögen, sich auf der kühn erstrebten Höhe zu erhalten, an das von Horaz den Nachahmern Pindar’s verkündete Ikarische Schicksal. Heilsamer unzweifelhaft war für H. das Studium des Sophokles. Seine (im J. 1804 zu Frankfurt a. M. erschienene) Uebersetzung von König Oedipus und Antigone geben die Dialoge in 5-füßigen (dann und wann mit 6-füßigen untermischten) Jamben, die Chöre in fessellosen Rhythmen wieder; oft ungenau, oft allzu genau, spiegeln sie die Vollendung des Originals nur in unzureichender Weise, dennoch scheint es, daß die maßvolle Schönheit des griechischen Tragikers Hölderlin’s Geist in wohlthätigen Schranken hielt und ein weiteres Abirren verhinderte. Im Sommer 1804 war er soweit hergestellt, daß ihn sein Freund Sinclair nach Homburg zu geleiten vermochte. Der Landgraf, der für die deutsche Litteratur das lebhafteste Interesse bekundete, und mit dem Dichter bereits während seines früheren Homburger Aufenthalts persönlich bekannt geworden, ertheilte demselben den Titel eines Bibliothekars, während der getreue Sinclair ihm einen Theil seines Gehaltes abtrat. Soviel Wohlwollen H. aber auch entgegengetragen wurde, so ließ doch nach Verlauf [734] zweier Jahre die Verschlimmerung seines Zustandes es rathsam erscheinen, ihn in seine Heimath zurückzuführen. Im Herbst 1806 wurde er nach Tübingen in die Klinik von Autenrieth gebracht. Da das hier versuchte Heilungsverfahren fehlschlug, wurde er im Sommer 1807 dem Tischlermeister Zimmer in Tübingen zur Pflege anvertraut, in dessen am Neckar gelegener Wohnung er bis an sein Lebensende (7. Juni 1843) geblieben ist.

Als Grundcharakter von Hölderlin’s Krankheit wird die aus ungeheurer Erschöpfung hervorgehende Zerstreutheit seines Geistes bezeichnet. Indessen ist es charakteristisch, daß, so verwirrt und sinnlos seine gewöhnliche Rede erschien, seine zahlreichen während der Periode des Irrsinns entstandenen Dichtungen des Zusammenhangs der Gedanken nicht völlig entbehren und noch weniger den Wohllaut des Rhythmus vermissen lassen. Nicht minder bezeichnend, daß auch in diesem traurigen Abschnitt seines Lebens Musik seine Lieblingsbeschäftigung bildete, denn gerade das wurde für ihn in jeglicher Hinsicht verhängnißvoll, daß sein Sinn für Wohllaut und Harmonie zarter und vollkommener ausgebildet war, als bei anderen Menschen. Zufolge dieser seiner Anlage mußten die Mißklänge des realen Lebens ihm unerträglich werden und auf seine Natur schließlich einen zerstörenden Einfluß üben. Ebenderselben Anlage aber verdanken wir die besten seiner lyrischen Gedichte, in welchen die Gedanken gleichsam in Musik umgesetzt, und die antiken Versmaße, insbesondere die alcäische Strophe, mit unvergleichlicher Meisterschaft behandelt werden. Bieten Hyperion und Empedokles, die Jugendgedichte und selbst einige der Lieder an Diotima vorzugsweise ein biographisches und in gewissem Sinne pathologisches Interesse dar, so sind es Hölderlin’s eigenartigste, eben so sehr durch Tiefe des Gefühls wie durch Adel der Gesinnung, durch Ideenreichthum wie durch Formvollendung ausgezeichnete Oden: „Das Ahnenbild“, „Der blinde Sänger“, „Dichtermuth“, „Der gefesselte Strom“, „Dem Sonnengott“, „Mein Eigenthum“, welche ihm einen Platz neben den hervorragendsten Lyrikern aller Zeiten sichern. Von kaum geringerer dichterischer Schönheit und zugleich bedeutungsvoll als Zeugnisse der patriotischen Gesinnung Hölderlin’s, der trotz der zornvollen Worte im Hyperion den Werth seines Volkes zu schätzen wußte, sind die Dichtungen: „Der Tod fürs Vaterland“, „Gesang des Deutschen“, „An die Deutschen“, in welchen letzteren er den nahebevorstehenden Fortschritt von einer einseitig litterarischen Cultur zu einer Periode der Thatkraft mit prophetischem Geiste verkündet und zugleich die Ahnung ausspricht, daß die deutsche Nation vor allen berufen sei, das ersehnte Ideal einer harmonischeren Gesittung zu verwirklichen.

Vgl. Friedrich Hölderlin’s sämmtliche Werke, herausgegeben von Christoph Theodor Schwab (1. Bd. Gedichte und Hyperion, 2. Bd. Nachlaß und Biographie), Stuttgart und Tübingen 1846. Fr. Hölderlin’s ausgewählte Werke, herausgegeben von Ch. Th. Schwab, Stuttgart 1874 (mit revidirter Biographie). Ergänzungen hat Schwab im Morgenblatt f. gebildete Leser 1863 Nr. 34 u. 35 und in Westermann’s Illustr. D. Monatsheften 30. Bd. S. 650 bis 663, ferner Julius Klaiber in der Festschrift: Hölderlin, Hegel und Schelling in ihren schwäbischen Jugendjahren, Stuttgart 1877, mitgetheilt. Hölderlin’s Frankfurter Aufenthalt schildert speciell Carl Jügel, Das Puppenhaus, e. Erbstück in d. Gontard’schen Familie, Frkf. a. M. S. 388–91. Eingehendere Würdigungen Hölderlin’s finden sich u. A. bei Alexander Jung, Fr. Hölderlin und seine Werke, Stuttg. u. Tübingen 1848, und bei Haym, Die romantische Schule (Berlin 1870), S. 289–324.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 728–734. Seit dem Abdruck des Artikels Hölderlin sind folgende wichtige Publicationen über H. erschienen: Ernst Kelchner, Friedrich Hölderlin in seinen Beziehungen zu Homburg vor der Höhe (Homburg v. d. H. 1883); von Karl C. T. Litzmann, Neue Mittheilungen über H. im Archiv für Litteraturgesch. Bd. XV und „Hölderlinstudien“ in der Vierteljahrsschrift für Litteraturgesch. Bd. II und schließlich von demselben Verfasser: F. Hölderlins Leben. In Briefen von und an H. (Berlin 1890). Hiernach erscheinen in dem Artikel der Allg. d. B. folgende Berichtigungen angezeigt: [Bd. 33, S. 796]
  2. S. 728. Z. 3 v. o. ist statt im J. 1773 „am 5. Juli 1772“ zu lesen, [Bd. 33, S. 796]
  3. S. 730. Z. 17 v. o. statt im Frühjahr „muthmaßlich im Juni“. [Bd. 33, S. 796]
  4. Zu S. 730. Z. 7 v. u. ist zu bemerken, daß nach einem Brief Hölderlin’s an seine Mutter vom 10. October 1798 (vgl. Kelchner a. a. O. S. 10) zu schließen – sich der Abschied des Dichters von Herrn Gontard in höflichen Formen vollzog. [Bd. 33, S. 796]
  5. Z. 6 v. u. statt September 1798 „Herbst 1798“ zu setzen. [Bd. 33, S. 796]
  6. S. 732. Z. 5 ff. ist das über Hölderlin’s „König Agis“ Gesagte zu tilgen, da es nach Litzmann’s Ausführungen zweifelhaft erscheint, ob H. ein Drama unter diesem Titel geschrieben hat. [Bd. 33, S. 796]
  7. S. 732. Z. 26 v. o. l.: in welchen (st. welcher). [Bd. 13, S. 794]
  8. S. 733. Z. 5 v. o. ist statt Ende des Jahres 1800 „im Januar 1801“; [Bd. 33, S. 796]
  9. Z. 23 f. statt Anfang Juli „in der zweiten Juniwoche“; [Bd. 33, S. 796]
  10. Z. 27 statt Juni „Mai“ zu setzen. [Bd. 33, S. 796]
  11. Auf derselben Seite ist Z. 29 zu tilgen und dafür zu setzen: „Erst einige Zeit nach seiner Heimkehr erfolgte der Tod Diotimas (22. Juni 1802), auf den man früher häufig irrthümlich den Ausbruch von Hölderlin’s Wahnsinn zurückgeführt hat“. [Bd. 33, S. 796 f.]